Katrin Terwiel Von der Komfort­zone und wie man den Mut­muskel trainiert

Dein Claim ist „Fueled by freedom“. Was bedeutet Freiheit für dich und warum ist sie so wichtig für dich?

Freiheit bedeutet für mich, dass Menschen selbstständig agieren und das ausleben können, was ihnen wichtig ist, ohne dabei die Freiheit anderer zu beeinträchtigen. Es bereitet mir große Freude, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Freiheit zu erweitern oder herauszufinden, in welchen Bereichen sie frei sein möchten. Das kann im beruflichen Kontext, in Beziehungen, in der Sexualität oder in Unternehmungen sein. Ich spreche oft über den „Mutmuskel“, der für mich eng mit Freiheit verbunden ist. Es fasziniert mich, wenn Menschen ihre eigenen Konventionen in einer Welt voller Normen finden und ich sie dabei unterstützen kann. Freiheit ist mir so wichtig, weil ich in einer Umgebung aufgewachsen bin, in der es viele Erwartungen und Bewertungen darüber gab, wie Dinge sein sollten. Für mich war es immer bedeutend zu sagen: Warum nicht? Warum sollte ich es nicht so machen können, wie es sich für mich richtig anfühlt? Natürlich gibt es Grenzen, wenn andere dadurch benachteiligt würden.

Warum sollte ich es nicht so machen können, wie es sich für mich richtig anfühlt?

Eine deiner Headlines ist „Den Mut-Muskel kann man trainieren“. Wie kann dieses Training aussehen?

Ja, tatsächlich ist es nachweislich gut, sowohl für Einzelpersonen als auch für Paare, kleine „Mikroabenteuer“ zu erleben. Es ist wichtig, immer wieder Neues auszuprobieren und aus der Komfortzone herauszutreten. Studien zeigen, dass Partnerschaften länger halten, wenn man gemeinsam Neues unternimmt, weil dadurch bestimmte Hormone freigesetzt werden. Das Gleiche gilt für Privatpersonen, denen es gut tut, regelmäßig ihre Komfortzone zu verlassen, was auch die Selbstwirksamkeit stärkt. Selbstwirksamkeit bedeutet, dass ich mir etwas zutraue und das Gefühl habe, Veränderungen bewirken zu können. Das ist in der heutigen Welt, die oft überwältigend und lähmend wirkt, extrem wichtig. Das Training des „Mutmuskels“ lässt sich am besten in einer Umgebung durchführen, in der man sich sicher fühlt. Daher gefällt mir das Konzept der „psychologischen Sicherheit“ – sowohl in Teams als auch in Beziehungen. Wenn ich mich sicher fühle, bin ich in meiner Lernzone; Angst hingegen kann das Mutmuskel-Training erschweren.

Kann ich davon auch Muskelkater bekommen?

Hier braucht es, denke ich, einen Hinweis: Nicht alle Menschen können sich gleich gut Dinge ab- oder antrainieren, da dies oft von individuellen Eigenschaften abhängt. Wenn jemand zum Beispiel sehr ängstlich aufgewachsen ist oder eine genetische Veranlagung zu Angststörungen hat, ist es viel schwieriger, mutig zu sein. Oder wenn Mut in der Vergangenheit bestraft wurde, ist es leicht gesagt, mutig zu sein. Dennoch glaube ich, dass es für jeden gut ist, immer wieder kleine Mikroabenteuer zu wagen.

Also ist der Mutmuskel quasi der Gegenentwurf zur Komfortzone?

Ja, ich würde sagen, der „Mutmuskel“ ist im übertragenen Sinne wie Eisbaden – nur in anderen Bereichen des Lebens. Sich zu trauen, in kaltem Wasser zu schwimmen, ist ähnlich wie das Lernen, sich selbst etwas zuzutrauen. Man weiß, dass es unangenehm wird, es ist nicht die warme Badewanne – aber man schafft es. Man traut sich Dinge zu, weil man schon Erfahrungen gesammelt hat.

Es ist ein großes Mutmuskeltraining, Dinge zu tun, die unangenehm sind, aber man weiß, dass man sie bewältigen kann.

Immer wenn ich merke, dass ich etwas Neues mache, fühle ich mich lebendig. Ist das damit vergleichbar?

Ja, ich glaube, man kann dadurch auch das Selbstbewusstsein in sich stärken, dass man irgendwie immer einen Weg finden wird. Ein Beispiel: Ich habe damals in der Psychiatrie als Stationspsychologin angefangen, ohne jemals zuvor in einer Psychiatrie gewesen zu sein. Der Chefarzt fragte mich, warum ich mir das zutraue, und ich sagte: „Ich habe auch schon mal ein Projekt in Kenia geleitet, ohne jemals zuvor in Afrika gewesen zu sein.“ Es hat geklappt, und das ist etwas, das ich über mich sagen kann: Ich bin anpassungsfähig. Es werden mir Dinge einfallen, und ich werde es schon irgendwie hinkriegen, auch wenn ich jetzt Angst habe. Die Zuversicht, dass man etwas schafft, auch wenn man noch nicht weiß, wie – das ist entscheidend.

Es geht also auch darum, Zuversicht zu trainieren, dass man, egal womit man konfrontiert ist, immer weiß: „Ich schaffe das.“

Genau. Ich finde „Zuversicht“ ein schönes Wort. Oder auch das, was ich vorhin erwähnt habe: Selbstwirksamkeit. Manche würden auch „Resilienz“ sagen, aber dieser Begriff ist mittlerweile etwas negativ behaftet, deshalb verwende ich ihn nur mit Vorsicht und niemals ohne definierten Kontext.

Welche Rolle spielt die Kreativität in deiner Arbeit als Psychotherapeutin?

Die menschliche Psyche ist unglaublich kreativ. Sie findet oft sehr kreative und hilfreiche Lösungen für das, was sie erlebt hat. Dinge, die von außen betrachtet „verrückt“ erscheinen, sind oft kreative Bewältigungsstrategien der Psyche. Ein Beispiel: Verfolgungswahn mag erst einmal wahnsinnig erscheinen, aber wenn man genauer hinschaut, könnte dieser Wahn eine kreative Art der Psyche sein, mit schweren Traumata umzugehen. Die Psyche verlagert das „Böse“ nach außen, sodass man ihm entkommen kann, statt es innerlich zu bekämpfen. Solche kreativen Prozesse zu verstehen, macht mir große Freude. Auch als Therapeutin brauche ich Kreativität, weil ich am Anfang einer Therapie oft nicht weiß, welche Ansätze am besten funktionieren werden. Es gibt allgemeine Konzepte, die in den meisten Fällen hilfreich sind, aber es sind oft die kleinen, individuellen Ideen, die den Durchbruch bringen. Kreativität bedeutet für mich, am Anfang nicht zu wissen, was am Ende herauskommt, und dennoch den richtigen Weg zu finden.

Die Psyche ist sehr kreativ und es macht mir Freude diese Kreativität zu verstehen.

Es geht also darum, flexibel die richtigen Mittel zu finden und anzupassen, um zur richtigen Lösung zu kommen.

Absolut. Das sind die Momente, die ich in der Psychotherapie am meisten liebe – wenn man gemeinsam eine Idee entwickelt, die einzigartig ist. Es kann eine Übung sein, eine Art, mit etwas umzugehen, oder ein Ritual – wenn es plötzlich „klick“ macht, ist das für beide Seiten ein tolles Gefühl.

Eines deiner zentralen Themen ist Neurodivergenz*. Neurodivergente Menschen müssen oft in Strukturen funktionieren, die für neurotypische Menschen geschaffen wurden. Wie kann Kreativität helfen, neurodivergente Menschen in diesen Situationen zu unterstützen?

Ich werde oft gefragt, was Arbeitgeber oder Teams tun müssen, um inklusiv für neurodivergente Menschen zu sein. Das ist schwer pauschal zu beantworten, da es sehr von der Tätigkeit, dem Team, der Führungskraft und der neurodivergenten Person selbst abhängt. Es gibt nicht „die eine Lösung“. Aber wenn Menschen in Entscheidungspositionen kreativ und offen sind, werden sie in Gesprächen mit neurodivergenten Menschen auf gute Ideen kommen. Es kann zum Beispiel in Ordnung sein, während der Arbeit Kopfhörer zu tragen oder ein YouTube-Video im Hintergrund laufen zu lassen, weil manche Menschen besser arbeiten, wenn sie stimuliert werden, während andere völlige Ruhe benötigen. Aber es gibt keine Standardlösungen; es ist ein kreativer Prozess. Manchmal muss man einfach die Kreativität der neurodivergenten Menschen nutzen und ihnen vertrauen, dass sie gute Ideen entwickeln werden. Wichtig ist, sich gegenseitig zuzuhören und sich für die Bedürfnisse des Anderen zu interessieren.

*Wie der Überbegriff Neurodiversität wurde auch das Wort neurodivergent von der Soziologin Judy Singer geprägt. Während sich der Begriff ursprünglich speziell auf Menschen mit Autismus bezog, hat sich die Verwendung des Begriffs in den letzten Jahren erheblich erweitert. Man spricht von Neurodivergenz, wenn bestimmte Gehirnfunktionen eines Menschen so deutlich anders arbeiten, dass es innerhalb der Gesellschaft nicht mehr als im „normalen Bereich“ betrachtet wird. Mehr Informationen

Es ist wichtig, die Kreativität der neurodivergenten Menschen zu nutzen und ihnen durch gute Fragen Vertrauen zu schenken.

Auf deiner Website schreibst du, dass Neurodivergenz eine andere Qualität ins Leben und in Unternehmen bringt. Welche Qualität ist das und wie können wir alle davon profitieren?

Viele Menschen beschreiben die Zusammenarbeit mit neurodivergenten Menschen als inspirierend. Sie erleben, dass Dinge passieren, die vorher nicht möglich schienen: Innovationen, die Erkennung von Mustern oder Problemen, die vorher übersehen wurden. Es kann augenöffnend sein, Verbindungen zu sehen, die vorher nicht existierten. Spontanität, mutige Impulse – das sind Eigenschaften, die Teams bereichern können. Natürlich gibt es auch Herausforderungen, aber die Vielfalt der Denkweisen macht Teams definitiv stärker, als wenn alle auf die gleiche Art und Weise arbeiten.

Diese Vielfalt an Denkweisen bereichert das Team und führt zu besseren Ergebnissen.

Unterschiedliche Menschen empfinden unterschiedliche Dinge als Hürden und können sich gegenseitig unterstützen?

Genau. Oder man teilt die Aufgaben basierend auf den Stärken der Einzelnen auf. Stärkenbasiertes Arbeiten ermöglicht es, sich gegenseitig zu unterstützen.

In deinem Podcast „Deep Shit Talks“ sprichst du zusammen mit Tina Steckling über psychologische Themen. Welche Folge sollte ich mir unbedingt anhören – und warum?

Da wir gerade über Neurodivergenz sprechen: Unsere Folge „ADHS im Erwachsenenalter“ ist eine unserer beliebtesten und wirklich gut gelungen. Ich empfehle auch die Folge „Mental Health bei der Arbeit – worüber dürfen wir sprechen?“, in der es unter anderem darum geht, ob man sich mit einer Diagnose am Arbeitsplatz outen sollte. Auch unsere Folgen zu den Themen „Burnout-Gefahr“ und „Innerer Kritiker“ sind sehr beliebt. Besonders spannend finde ich unsere jüngste Folge über „Fragetechniken“, in der wir Expert*innen aus verschiedenen Branchen gefragt haben, welche Fragen sie besonders gut finden. Ich glaube, die Welt wäre eine bessere, wenn Menschen besser fragen, zuhören und neugierig sein könnten. Das passt auch zu dem, was wir vorhin besprochen haben: Führungskräfte sollten in der Lage sein, mittels Fragen zielführend, neugierig und coachend zuzuhören.

Führungskräfte sollten in der Lage sein, mittels Fragen zielführend, neugierig und coachend zuzuhören.

Du meinst, Fragen zu stellen als Gegenentwurf zum Bewerten? Also ein bewertungsfreies Wahrnehmen, ohne zu kommentieren?

Das bedeutet nicht, dass es keine roten Linien gibt oder Führungskräfte keine Regeln aufstellen dürfen. Regeln sind manchmal notwendig, um das Zusammenleben zu organisieren. Aber auf dem Weg dorthin, bis eine Regel im Team erarbeitet wird, kann man viel Neugier und Offenheit einbringen. Selbst wenn eine Regel festgelegt wird, kann man weiterhin neugierig sein und fragen: „Wie kannst du diese Regel am besten umsetzen?“

About Katrin Terwiel

Katrin Terwiel ist Psychotherapeutin mit Managementbackground. Sie befreit Menschen aus Krisen und Unternehmen von ungesunden Dynamiken. Sie arbeitet mit einer wohl einmaligen Doppelqualifikation. Denn sie ist nicht nur Psychologische Psychotherapeutin. Als leitende Managerin in zwei Konzernen hat sie viele Situationen, die man aus dem eigenen Alltag kennt, selbst erlebt.

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Über den Autor

Hi, ich bin Enrico von cigarsauerkraut. Ich schreibe über Design, digitale Teilhabe und Inklusion – und helfe Marken, ihr strategisches Fundament in zukunftsfähige Designkonzepte zu übersetzen.

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