Florian Malicke Von Star Wars und krummen Uhr­zeiten auf dem Wecker

Was bedeutet Kreativität für dich als Person und für deine Arbeit?

Kreativität ist für mich ein weites Feld. Schon als Kind war ich kreativ und habe mich in vielen Dingen ausprobiert: Ich habe Serien nachgespielt, Roboter imitiert und mit Freunden Laserschwerter aus Besenstielen gebaut. Der Weltraum, insbesondere „Star Wars“, hat mich fasziniert. Auch Musik war immer wichtig für mich – ich habe mir früh eigene Schlagzeuge aus all den Sachen gebaut, die ich im Haushalt finden konnte. Früher äußerte sich mein ADHS-Anteil eher impulsiv nach außen, was bedeutete, dass ich ständig Input brauchte und Ideen schnell umsetzte. Theater hat mich schon früh fasziniert, und ich habe später jahrelang Theater gespielt. Kreativität war also schon immer ein zentraler Bestandteil meines Lebens.

Als Kind fühlte ich mich oft alleine mit meiner Kreativität. Ich erinnere mich an das YPS-Heft in den 70er- und 80er-Jahren – es war mein ständiger Begleiter, auch wenn die Gimmicks darin oft kaputt gingen. Ich hatte einen Freund in Cuxhaven, den ich nur in den Ferien gesehen habe, der ebenfalls YPS-Fan war. Wir haben zusammen gebastelt, gespielt und uns als Agenten ausgegeben. Das widerlegt das Klischee, dass autistische Menschen alleine und zurückgezogen leben. Die autistische Welt ist vielfältig, genau wie die neurotypische. Ich kenne viele neurodivergente Musiker, Schauspieler und Menschen in der Medienbranche, die ihre Kreativität voll ausleben.

Das widerlegt das Klischee, dass autistische Menschen alleine und zurückgezogen leben.

Kreativität war und ist für mich ein Ventil, besonders in meinem beruflichen Leben, in dem ich lange „maskiert“ war, um nach außen zu funktionieren. Im privaten Bereich war Kreativität eine Möglichkeit, mein wahres Selbst auszudrücken, auch wenn ich damals noch nicht wusste, dass dies meine eigentliche Identität war. Leider stieß das in der neuronormativen Welt oft auf Unverständnis, und ich wurde missverstanden. Man warf mir vor, ich würde mich bei anderen einschmeicheln, während ich einfach nur begeistert war. Das hat mich verletzt, denn ich handelte aus einer intrinsischen Motivation heraus, nicht aus Eigennutz.

Die autistische Welt ist vielfältig, genau wie die neurotypische.

Du bist Diplom-Sozialpädagoge und bezeichnest dich als „Inkluencer“. Was bedeutet das für dich und wie nutzt du Kreativität in deiner Arbeit als Inkluencer?

Den Namen „Inkluencer“ habe ich mir nicht selbst gegeben, er wurde mir auf LinkedIn verliehen, und ich fand ihn so lustig und passend, dass ich ihn übernommen habe. Obwohl ich das Wort „Influencer“ eigentlich nicht mag, weil ich mich frage, wen sie beeinflussen und warum sie so wichtig sein sollen, habe ich den Begriff spielerisch für mich genutzt.

In meiner Arbeit bedeutet Kreativität, dass ich endlich die Freiheit habe, mich auszuprobieren und meinen eigenen Stil zu entwickeln.

Seit meiner Selbstständigkeit und der Entdeckung von LinkedIn hat sich viel für mich verändert. LinkedIn wurde für mich zur kreativen Spielwiese, auf der ich mich ausdrücken und weiterentwickeln kann, ohne Angst zu haben, etwas falsch zu machen. Als ein Bericht von mir viral ging, hatte ich kurzzeitig die Angst, diesen Erfolg ständig wiederholen zu müssen.

„Doch ich habe schnell gelernt, dass es wichtig ist, einfach mein Ding zu machen und nicht auf die Zahlen zu schauen. Kreativität ist mein eigener Antrieb.“

Also ist Kreativität der Motor, der dich antreibt?

Ja, genau. Kreativität ist etwas, das ich liebe. Wenn ich Workshops gebe oder Vorträge halte, fühlt sich das für mich an wie ein Bühnenauftritt. Früher stand ich mit Bands auf der Bühne, oft vor kleinem Publikum, und bekam selten Rückmeldungen. Heute ist das anders – ich bekomme direktes Feedback, und das tut mir gut. Es zeigt mir, dass ich anderen Menschen etwas geben kann, und das ist eine Win-win-Situation. Diese Resonanz hilft mir, mich besser zu spüren, ohne dass es nur um Ego-Bestätigung geht. Als neurodivergente Person konnte ich mich oft nicht richtig ausdrücken, weil ich nie wirklich ich selbst sein konnte. Heute ist das anders, und das fühlt sich gut an.

Wichtig ist mir jedoch, dass ich mich nicht abhängig mache von den Reaktionen oder den Impressions. Ebenso bedeutend ist für mich die Community, mit der ich mich im Hintergrund austauschen kann. Dieser Austausch, sei es online oder persönlich, hat für mich einen großen Mehrwert, weil ich früher oft das Gefühl hatte, völlig allein zu sein. Kreativität, sei es durch Videos, Bilder oder Texte, gibt mir die Möglichkeit, mich auszuprobieren und Dinge anders zu machen, und das habe ich lange vermisst.

In deinem Newsletter „Neurospicy Insights“ sprichst du von der „Innovationskraft autistischer Gehirne“. Wie können Unternehmen von dieser Kraft profitieren?

Ich würde sogar von der Innovationskraft neurodivergenter Gehirne sprechen. Viele neurodivergente Menschen haben aufgrund ihrer anderen neuronalen Verdrahtung ganz eigene Perspektiven und Lösungsansätze. Leider werden sie oft defizitär oder pathologisch betrachtet, was ein großes Problem ist. Das Potenzial, das in neurodivergenten Menschen steckt, wird häufig übersehen, weil sie nicht den neuronormativen Erwartungen entsprechen. Dabei bin ich überzeugt, dass Wissenschaft, Kultur und Kunst sich nie so entwickelt hätten ohne die Beiträge neurodivergenter Gehirne.

In Unternehmen wird oft verkannt, dass neurodivergente Menschen lösungsorientiert denken und handeln.

Aufgrund ihrer anderen Wahrnehmung der Welt haben sie oft innovative Ideen, die sich andere nicht trauen zu äußern oder zu denken. Ein großes Problem dabei ist das „Double Empathy Problem“: Neurodivergente Menschen haben Schwierigkeiten, sich neuronormativen Menschen verständlich zu machen, und umgekehrt. Dadurch geht viel Potenzial verloren.

Unternehmen machen oft den Fehler, nur Menschen einzustellen, die dem Management entsprechen. Wirklich gelebte Neurodiversität, bei der neurotypische und neurodivergente Menschen zusammenarbeiten und voneinander lernen, kann jedoch enorme Synergien freisetzen.

Wirklich gelebte Neurodiversität kann enorme Synergien freisetzen.

Du sprichst damit auch das „Out of the Box“-Denken an, das oft im Zusammenhang mit Innovation genannt wird.

Ja, genau. Kürzlich hatte ich einen Workshop in einem Unternehmen, und der CEO sagte mir, es sei für ihn ein Augenöffner gewesen. Er erkannte, dass es nicht nur darum geht, neurodivergente Menschen einzustellen, sondern auch darum, das Potenzial derjenigen zu nutzen, die bereits im Unternehmen sind und vielleicht nicht am richtigen Platz arbeiten. Das ist sowohl für die wirtschaftliche als auch für die kulturelle Seite eines Unternehmens ein echter Gewinn. In diesem Bereich tut sich derzeit glücklicherweise viel.

Du warst Speaker beim ersten deutschen Neurodiversity Pride Day. Was bedeutet Pride im Kontext von Neurodiversität und warum ist dieser Tag so wichtig?

Ich sehe viele Parallelen zur queeren Community. Auch wir neurodivergenten Menschen erleben psychische Gewalt als Minderheit. Was mich beeindruckt, ist das Freiheitsstreben und das Selbstbewusstsein der queeren Bewegung: „Hier sind wir, und wir sind stolz darauf, anders zu sein.“ In der neurodivergenten Community wurde jahrzehntelang über uns gesprochen, aber nun erheben wir selbst unsere Stimmen. Es ist wichtig, dass wir sichtbar sind und zeigen, dass es okay ist, so zu sein, wie wir sind. Diese Akzeptanz hat mir persönlich auf meinem Weg zur Selbstakzeptanz sehr geholfen.

Diese Akzeptanz hat mir persönlich auf meinem Weg zur Selbstakzeptanz sehr geholfen.

Als ich mich im letzten August (AdR: August 2024) bei LinkedIn öffentlich als neurodivergent geoutet habe, hatte ich zunächst Angst, keine Aufträge mehr zu bekommen. Doch schnell merkte ich, dass die Leute es gerade schätzen, wenn Betroffene selbst sprechen und ihre Fachkenntnisse teilen. Der Pride Day ist für mich ein wichtiger Schritt zur Sichtbarkeit und zur Stärkung der Community.

Auf deiner Website zitierst du Temple Grandin mit den Worten: „Ich bin anders, nicht weniger.“ Grandin ist bekannt für ihre kreativen Ansätze in der Tierhaltung und ihren Aktivismus im Bereich Autismus. Was verbindet dich mit Temple Grandin?

Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich persönlich kaum Tiere esse. Jede Person muss das für sich selbst entscheiden. Ich sehe Temple Grandins Arbeit zwiespältig: Sie hat sich Gedanken gemacht, wie man den Tieren bis zur Schlachtbank möglichst wenig Stress und Angst bereitet - und war in diesem Bereich sehr innovativ, da sie durch ihre neurologische Veranlagung interdisziplinär gedacht und gehandelt hat - und somit innovative Lösungen entwickeln konnte. Das ist das Gute im Schlechten, denn diese Angst und dieser Stress sind nichts Schönes.

Was mich an Temple Grandin fasziniert, ist, dass sie eine der ersten laut gewordenen Stimmen im Bereich Autismus war. Sie wurde als unkonventionell betrachtet und hatte Schwierigkeiten, sich zu kommunizieren, doch sie ging ihren Weg und fand viele Lösungen selbst heraus. Unterstützt wurde sie von Menschen, die ihr Potenzial erkannten und förderten. Temple Grandin war eine der ersten, die offen sagte: „Ich bin anders, aber nicht weniger.“ Dieser Satz – „Ich bin anders, aber nicht falsch“ – ist für mich zu einem Leitsatz geworden. Ihre Biografie finde ich sehr spannend, da sie in ihrer Kindheit als „schwachsinnig“ diagnostiziert – ein damals gängiger, abwertender Begriff. Nur ihre Eltern haben sie gefördert. Auch heute wird Autismus oft, böse gesagt, mit „schwachsinniger Genialität“ in Verbindung gebracht. Einerseits können uns die Schuhe nicht binden, andererseits können wir Telefonbücher auswendig lernen. Aber das betrifft nur einen kleinen Teil autistischer Menschen mit dem Savant-Syndrom. Die Mehrheit von uns hat gelernt, Blickkontakt herzustellen und zu kommunizieren, muss sich aber ständig verstellen, um in dieser Welt zurechtzukommen. Dass Temple Grandin ihren Weg gegangen ist und damit an die Öffentlichkeit trat, war für mich ein Aha-Moment.

Du hast zusammen mit Nadine Schönwald ein LinkedIn-Live-Event mit dem Titel „Inklusion in der Arbeitswelt: Schluss mit den Ausreden!“ organisiert. Das Event findet von 12:03 – 12:48 Uhr statt. Was hat es mit dieser ungewöhnlichen Uhrzeit auf sich?

Das war Nadines Idee, und sie hat mich damit ein wenig aus meiner Komfortzone gelockt. Für mich müssen Zeiten immer auf Null oder Fünf enden – alles andere fühlt sich seltsam an. Aber ich fand es interessant, weil es Aufmerksamkeit erregt hat. Es gibt tatsächlich Leute, die ihre Wecker auf ungerade Zeiten stellen, was für mich unvorstellbar ist. Dieses Experiment hat mir gezeigt, dass es unterschiedliche Fraktionen gibt, die auf solche Details unterschiedlich reagieren. Letztlich fand ich es eine witzige Idee, auch wenn es mich innerlich etwas nervös macht. Was ich an Nadine schätze, ist, dass sie oft über den Tellerrand hinausdenkt und mich damit auch pusht.

Es gibt tatsächlich Leute, die ihre Wecker auf ungerade Zeiten stellen. Das ist für mich unvorstellbar.

About Florian Malicke

Florian Malicke ist ein Diplom-Sozialpädagoge mit fast 30 Jahren Erfahrung im Umgang mit autistischen Menschen. Er bietet Coaching und Beratung für Erwachsene im Autismus-Spektrum sowie Consulting für Unternehmen zum Thema Neurodiversität an. Selbst mit Autismus diagnostiziert, sieht er sich als „Experte in eigener Sache“ und nutzt seine persönliche und fachliche Expertise, um Menschen im Autismus-Spektrum zu unterstützen und Unternehmen dabei zu helfen, neurodivergente Potenziale zu entfalten.

Zur Website

Über den Autor

Hi, ich bin Enrico von cigarsauerkraut. Ich schreibe über Design, digitale Teilhabe und Inklusion – und helfe Marken, ihr strategisches Fundament in zukunftsfähige Designkonzepte zu übersetzen.

Mehr über mich erfahren

Schreib mir eine Nachricht

*Pflichtfelder