Warum konzentrieren wir uns immer auf die klassischen d.school-Geschichten aus Stanford, auf Produkte und Schemata, die uns schon seit Jahrzehnten begleiten? Das führt uns immer wieder zurück zu den Grundlagen des Designs. Wir könnten hunderte Jahre zurückgehen, zur modernen Bewegung des Bauhauses. Oder noch weiter: das Arts-and-Crafts-Movement oder Toulouse-Lautrec, der das Grafikdesign mitbegründet hat, indem er sich von der Kunst inspirieren ließ, und so weiter. Diese DNA ist stark geprägt vom Einfluss des Westens und wird auf die ganze Welt gemappt. Aber ich habe mittlerweile starke Bedenken, dass das tatsächlich der richtige Weg ist, um unsere Probleme im 21. Jahrhundert zu lösen.
Christoph Hassler Über Einhörner und die transformierende Kraft von Wut

Christoph, was ist deiner Meinung nach die stärkste Kraft deiner Kreativität?
Kreativität bedeutet für mich, Grenzen zu überwinden und Verbindungen zu knüpfen. Gerade wenn wir über Design sprechen, bewegen wir uns oft in sehr eingefahrenen Frameworks. Es gibt Methoden, die wir alle nutzen – sie funktionieren, keine Frage, aber ich glaube, wir haben sie ein Stück weit ausgereizt. Wir stehen an den Grenzen dessen, was diese Methoden hergeben. Ich glaube, wir müssen jetzt schauen, dass wir außerhalb unserer Domäne etwas heranziehen. Ich habe mir zum Beispiel die Standpunkttheorie aus dem Feminismus herangeholt, ich habe mich beim Akademischen bedient – etwa bei Paulo Freire – und mich mit kritischer Pädagogik auseinandergesetzt.
Ich suche gezielt außerhalb der klassischen Design-Literatur nach Inspiration. Denn ich glaube, dass genau dort Neues entsteht.

© Surreal Dynamism – Olga Aleksandrova
Welche Probleme genau meinst du?
Das größte Problem ist der Klimawandel, der zunächst den globalen Süden mit Fluten, Unwetter, Dürren trifft. Daraus folgt weiteres Leid: brutale Migrationspolitik und Verrohung von Gesellschaften, die aus Angst um ihren Wohlstand Mauern hochziehen. Anstatt zu überlegen, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, die den Klimakollaps übersteht, schotten wir uns in Europa ab. Design muss sich verändern, um auf diese globalen Herausforderungen zu reagieren. Wir müssen grundlegend umdenken und neue Ansätze entwickeln, die wirklich schöpferisch und nachhaltig sind.
Der Klimawandel trifft gerade Menschen, die sich am wenigsten dagegen wehren können.
Du bezeichnest dich als Designer for equity and inclusion. Wie kann Design teilhaben und Inklusion schaffen?
Da komme ich zu einem Zitat von 1969 aus dem „The Science of Artificial“ – Über die Wissenschaft des Lernens und der Künstlichen Intelligenz. Das ist aus dem Jahre 1969. Und da heißt es: „Wir sind alle Designer, weil wir unseren Intellekt einsetzen, um Situationen, in denen wir uns befinden, in Situationen zu verwandeln, in denen wir sein möchten.“

„Situationen, in denen wir uns befinden, in Situationen verwandeln, in denen wir sein möchten.“
Hier schließt sich für mich der Kreis zu Diversity, Equity & Inclusion. Es geht darum, die Praxis zu verändern. Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht mehr über andere hinweg designen, sondern mit den betroffenen Menschen co-kreieren. Statt in unserem isolierten Labor zu sitzen, wo wir unsere Ideen zusammenbauen, sollten wir von Beginn an anerkennen, dass andere Menschen wahrscheinlich mehr Wissen über ihre spezifischen Situationen und Domänen haben als wir.
Das heißt, dass wir als designende Menschen unsere vermeintlich elitäre Position aufgeben sollen?
Ganz genau. Das darf nicht nur punktuell in Form von Usability-Tests passieren, sondern sollte co-verantwortlich sein. Die Rolle von Designern verschiebt sich dadurch: Unsere Aufgabe ist es, Fragen zu stellen, das Wissen der Beteiligten herauszukitzeln und ihre Perspektiven wertzuschätzen. Denn viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie wertvoll ihr alltägliches Domänenwissen ist. Für sie ist das komplett selbstverständlich – für uns kann es jedoch der Schlüssel zur besten Lösung sein. Diese Selbstverständlichkeit aufzubrechen und zu zeigen, dass ihre Perspektiven essenziell sind, ist ein sehr wertvoller Skill, den die Designenden in Zukunft verstärkt brauchen werden.

© Surreal Dynamism – Olga Aleksandrova
Das klingt nach einer grundlegenden Neuausrichtung der Rolle von Designern. Anstatt Pixel zu malen, holen wir Kompetenzen ein, um die beste Lösung zu finden?
Mit diesem Gedanken beschäftige ich mich schon länger und habe mich intensiv mit Ansätzen wie „Critical Design“ und „Equitable Design“ auseinandergesetzt. Mit der zunehmenden Nutzung von Künstlicher Intelligenz ist diese Fragestellung existenziell geworden. Was passiert, wenn Kunden künftig mit einem Stift ein Wireframe skizzieren, es in eine KI einspeisen – und direkt eine fertige Webseite erhalten? Wir Designer kennen das Problem schon lange: Wer hat nicht die Diskussion mit seinen Kunden geführt, warum sie so viel Geld für ein bisschen Farbe und Typo bezahlen? Es war noch nie wirklich leicht, unsere Position hervorzustellen. Zu Farben, Formen und Bilder hat jeder eine Meinung – wir kennen das aus unzähligen Büchern und Blogs von vor vielen Jahren mit lustigen Zitaten wie „Kunden aus der Hölle“.
Das Problem verschärft sich, wenn dieselben Kunden aus der Hölle plötzlich Midjourney oder ChatGPT nutzen.
Und was bleibt dann noch für uns Designende?
Was bleibt, ist das, was ChatGPT nicht kann: mit Menschen interagieren, ihre Perspektiven einholen und kreativ moderieren. Unsere Aufgabe wird es sein, mit Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammenzuarbeiten, ihre Erfahrungen zu würdigen und ihre Kreativität zu fördern, um gemeinsam die Situation, in der wir uns befinden, in die Situation zu verwandeln, in der wir sein möchten.
Wir müssen mehr mit Menschen zusammen kreieren, schaffen, schöpfen. Das, was ChatGPT nicht kann.
In deinem Vortrag „Decolonize Tech – How to Design for All“ auf der re:publica 2024 ist mir besonders ein Punkt hängengeblieben: „Be humble and listen“. Welche Kraft steckt in dieser Aussage? Und warum ist sie nicht nur im Hinblick auf Design so wichtig?
Im Designbereich haben wir viele Tools, um Menschen besser zu verstehen: Personas, Empathy Maps, Interviews, Shadowing, Contextual Inquiries. Sie sind nützlich, aber haben ihre Grenzen. Das Prinzip „be humble and listen“ bedeutet dagegen, dass wir Menschen begegnen und uns wirklich wertungsfrei auf ihre Perspektiven einlassen. Es geht darum, nicht mit dieser Stimme im Kopf sofort alles einzuordnen: „Ist das relevant für mein Projekt?“ Stattdessen sollten wir tief durchatmen, zuhören und das Gehörte geschehen lassen.

© Surreal Dynamism – Olga Aleksandrova
In meinem Vortrag zum Thema Kolonialisierung spreche ich darüber, wie wir mit Leuten umgehen, die nicht aus diesen klassischen Designschmieden wie der d.school in Stanford, dem Bauhaus oder anderen Kaderschmieden kommen. Hier liegt die wahre Kraft von „Be humble und listen“: Beobachten, zuhören und anerkennen, dass sie ein tieferes Wissen über ihre eigene Situation haben und Methoden benutzen, die uns vielleicht fremd sind – das ist okay. Anstatt mit unserem Double Diamond ankommen und sagen: „Hey, lass uns mal Hypothesen und ein Statement aufschreiben …“
„Der Designprozess lässt sich mit zehn Minuten mindfulness vergleichen. Man betrachtet die Gedanken, erkennt sie und lässt sie weiterziehen.“
Du hast eine sehr klare Haltung zum Thema Dualismus. Was würdest du all denen raten, die die Komplexität jenseits des Dualismus als „anstrengend“ oder „unnötig“ empfinden?
Dualismus macht Dinge oft leichter – das ist ja die verführerische Einfachheit hinter Kategorien wie „gut“ und „böse“. Manchmal reicht das – wie etwa im Computercode, wo mit 1 und 0 schon unglaublich viel zu erreichen ist. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem wir mit sogenannten Wicked Problems konfrontiert sind. Der Design-Theoretiker Horst Rittel beschreibt damit komplexe Probleme, die auf alles zutreffen, sobald Menschen beteiligt sind – mit ihren Meinungen, Hintergründen und politischen Einstellungen. Vielschichtiger, als es unsere westliche Gesellschaft oft zulassen will. Und das ist für mich eines der großen Hindernisse, wenn es darum geht, die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit zu lösen.
Gerade die sogenannten Wicked Problem brauchen einen langen Atem. Sie sind schwer zu durchdringen und oft lässt sich erst im Nachhinein nachvollziehen, wie ein bestimmtes Ergebnis zustande kam. Besonders in einer Welt, die von KPIs und Metriken dominiert wird, bleibt kein Raum für freies pluralistisches Denken.
Besonders in einer Welt, die von KPIs und Metriken dominiert wird, bleibt kein Raum für freies pluralistisches Denken.
Der Gedanke der Pluriversalität stammt aus diesem dekolonialen Ansatz, der besagt: Universalität, die vom Westen ausgeht und bei uns in Europa funktioniert, muss auch irgendwo in Afrika funktionieren. Davon müssen gerade wir, die die Deutungshoheit für die Welt in Händen halten, wegkommen. Als Designende müssen wir auch mal einen Schritt zur Seite machen und aus unserem Kanon ausbrechen – ich weiß, das ist schwer und nicht profitabel. Genau das beschreibt Mark Fisher in seinem Buch „Capitalist Realism“. Er bemerkt, dass wir keine Vorstellung mehr davon haben, wie eine alternative Welt aussehen könnte. Unser Denken ist seit 30 Jahren saturiert, weil es keinen alternativen Gegenvorschlag gibt. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, aus dem Stand über eine hohe Latte zu springen – aber uns fehlt der Anlauf. Wir müssen Schritte zurückgehen, um uns neu auszurichten. Doch das schaffen wir nicht alleine. Wir sitzen zu tief in diesem Loch. Meine hoffnungsvolle Botschaft ist, dass die globale Mehrheit anders funktioniert als der westliche Kanon. Wir müssen – jetzt komme ich wieder auf das zentrale Thema Klimawandel – etwas auf globaler Ebene schaffen, das es so noch nicht gegeben hat.

„Meine hoffnungsvolle Botschaft ist, dass die globale Mehrheit anders funktioniert als der westliche Kanon.“
Auf deiner Website zitierst du Audre Lorde, deren Gedicht „Black Unicorn“ eine metaphorische Auseinandersetzung mit Wut, Unterdrückung und dem Drang nach Freiheit darstellt. Wie passen Deiner Meinung nach Wut und Kreativität zusammen?
Das Zitat lautet: “There’s no such thing as a single-issue struggle because we don’t live single-issue lives.” Es stammt aus Audre Lordes Essay „Learning from the 1960s“, das in ihrem Band „Sister Outsider“ in den 80ern veröffentlicht wurde. Audre Lorde spricht von der Wut der Unterdrückten – eine Wut, die transformative Kraft besitzt. Als queere, schwarze Frau beschreibt sie Wut als eine transformative Emotion. Für marginalisierte Menschen ist Wut eine enorme Kraft, um sich in einen neuen Zustand katapultieren zu können. Hier kommt die Kreativität ins Spiel: Wenn du in einer Position bist, in der dir viele systemischen Privilegien fehlen, musst mit dem arbeiten, was du hast.
Die Wut der Privilegierten funktioniert oft anders. Sie ist häufig destruktiv und richtet sich nach unten. Das sehen wir zum Beispiel in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit, wenn die Mittelklasse Angst vor dem Abstieg bekommt und die Wut unterdrückt. Genau davon müssen wir uns trennen. Wir brauchen Wut, die schöpferisch ist. Das Feuer, das Veränderung für neue Welten antreibt.
Marginalisierte Gruppen schöpfen mit Wut etwas Neues. Privilegierte Menschen richten Wut nach unten.

© Surreal Dynamism – Olga Aleksandrova
Was sind das für Welten und wo haben die Platz?
Diese neuen Welten entspringen einer pluriversalen Vision. Damit spreche ich Black People, People of Color und marginalisierte Menschen an – in Deutschland und weltweit oft von politischer und sozialer Unsicherheit betroffen. Viele überlegen, ob sie in andere Länder fliehen sollten oder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Ich möchte diese Menschen daran erinnern, dass sie etwas in sich tragen, das zum Schlüssel für eine positive Veränderung werden kann. Das ist der rote Faden in unserer Konversation: Wir brauchen neue Perspektiven, um die Probleme zu lösen, an denen wir uns seit Jahrzehnten abarbeiten. Doch dafür braucht es Raum. Entweder muss die privilegierte Schicht diesen Raum öffnen – oder wir, die nicht dazugehören, schaffen uns eigene Räume. Das sind die zwei Optionen, die ich sehe, um voranzukommen.
Genau zu dieser Frage lese ich gerade „Hospicing Modernity“ von Vanessa Machado de Oliveira. Sie argumentiert, dass die Moderne – mit ihren Lösungen – nicht tot ist, aber im Sterben liegt. Wir befinden uns in dem Loch oder in einer Sackgasse, wie Mark Fisher in „Capitalist Realism“ beschreibt. Das bedeutet, wir können uns nicht einfach aus diesem System befreien, sondern müssen ihm helfen, in Würde zu enden. Modernity war die letzten 400 bis 500 Jahre von Kolonialismus und der Expansion westlicher Werte geprägt. Sie hat uns in vielen Bereichen vorangebracht, aber sie hat auch immense Schäden angerichtet. Wenn wir versuchen, sie gewaltsam zu ersetzen, wird das nur mehr Leid und Zerstörung bringen. Stattdessen sollten wir überlegen, wie wir den Übergang in eine neue Epoche sanft gestalten können – wie wir die Moderne zu Grabe tragen und gleichzeitig den Humus, wie Machado de Oliveira es nennt, schaffen, aus dem Neues wachsen kann. Ich habe meine Hoffnungen und Prinzipien, nach denen ich leben möchte – Gleichheit, Gerechtigkeit, eine Welt ohne Mangel. Das positive Bild von, die Moderne in Würde zu Grabe zu tragen, um eine bessere Welt zu schaffen, gefällt mir.
Das positive Bild von, die Moderne in Würde zu Grabe zu tragen, um eine bessere Welt zu schaffen, gefällt mir.

About Christoph Hassler
Christoph Hassler ist seit seiner Jugend an Anti-Rassismus und Klimaschutz interessiert. Als Human-Centered-Designer arbeitete er jahrelang in der Tech Industrie und half, digitale Produkte inklusiver zu gestalten. Er ist als freiberuflicher Designer tätig sowie Public Speaker und Berater in seinem Spezialgebiet Diversity & Inclusion.
Zur WebsiteDas Interview wurde von Daniela Müller redaktionell aufbereitet.
Über den Autor
Hi, ich bin Enrico von cigarsauerkraut. Ich schreibe über Design, digitale Teilhabe und Inklusion – und helfe Marken, ihr strategisches Fundament in zukunftsfähige Designkonzepte zu übersetzen.